Der Mittwoch. Ein fester Termin in der Woche. Die Chorgemeinschaft und das Singen gehörten wie selbstverständlich zu meinem Leben. Dass dies von heute auf morgen anders werden könnte hatte
niemand gedacht. Die Pandemie war für alle etwas nie Dagewesenes und für uns Chorsänger eine ganz besondere Herausforderung.
Alles begann für uns am Mittwoch, den 11. März 2020. Wir hatten das Mozart Requiem am Karfreitag vor uns. Am Wochenende sollte ein Chortag stattfinden. Wir trafen uns zu einer letzten Tutti-Probe
im Gemeindehaus am Blarerplatz. An diesem Tag gab es erste schreckliche Meldungen aus Italien: Volle Intensivstationen, erschöpfte Ärzte und Pflegerinnen. Das Virus aus China war nach Europa
rübergeschwappt und hatte eine Infektionswelle ausgelöst, die niemand für möglich gehalten hätte. Viele hatten die Faschingsferien zum Skifahren genutzt und waren teils unmerklich infiziert,
teils schwer erkrankt nach Deutschland zurückgekehrt.
Später wusste man: Die Skigebiete waren Hotspots. Südtirol, Ischgl, Sölden - überall wurde das Virus in Hotels und Après-Ski-Bars weitergegeben und hatte sich zunächst unbemerkt auch in
Deutschland eingeschlichen.
Die Sorge im Chor war groß: Was ist mit unserem Konzert? Die hundert Fälle im Kreis Esslingen dürften doch nicht so schlimm sein, oder? Unser Chorleiter Uwe Schüssler, mit unerschütterlich
positivem Denken, hoffte auf Entwarnung. Ein Arzt unter den Mitsängern malte jedoch ein schwärzeres Bild. Er sollte leider Recht behalten. Zunächst aber rückten wir alle unsere Stühle ein wenig
auseinander, begannen das Einsingen und sangen das Mozartrequiem von vorne bis hinten. Jeder Einzelne ahnte irgendwie schon, dass es vielleicht für längere Zeit das letzte Mal gewesen sein
könnte, dass wir zusammen musizieren.
Die Absage des Probentags kam am nächsten Tag. War nun auch das geplante Kantorei-Jubiläum in Gefahr? Am 16. Mai 2020 sollte das Ehemaligen-Treffen stattfinden und in einen Festgottesdienst am 17. Mai münden. Alle freuten sich auf dieses Treffen mit Sektempfang, Mittagessen, Ansprachen, Anekdoten, Fotos, Videos und gemeinsamem Singen. Wenig später kam leider auch hier die Absage. Es sollte viele Wochen dauern, bis wieder gesungen wurde.
„Das Mozartrequiem werden wir auf jeden Fall im nächsten Jahr aufführen! Es wird jetzt nur vertagt und im November 2021 ist sicher der Spuk vorbei!“. So sprach man sich gegenseitig Mut zu. Uwe
organisierte alles für eine Wiederaufnahme im November 2021. Orchester und Solisten wurden informiert. Alle waren verständnisvoll aber auch geschockt. So langsam begriff man, was exponentielles
Wachstum bedeutete, sah ein, dass wir nicht ans Singen denken sollten, wenn die Intensivstationen voll waren und Ärzte bis zur Erschöpfung ihre Arbeit taten.
Was konnten wir aber tun? Es hieß nun: „flatten the curve“, also: „bleib zu Hause, wann immer es dir möglich ist“. Wir wuschen unsere Hände bis sie brannten. Ich packte meine Nähmaschine aus und
nähte für alle Familienmitglieder und Freunde Masken. Meine Gitarrengruppe machte einen Skype-Versuch, der kläglich scheiterte. Nein, gemeinsam online Musizieren, das klappt technisch nicht.
Einiges war auch online möglich: Yoga und Ballettstunde über Zoom, Treffen mit der Familie, Telefonkonferenzen, virtuelle Ausstellungen, home-schooling (zumindest eingescannte Arbeitsblätter) -
aber was war mit dem Chor? Covid-19 hieß in unserem Fall: Generalpause. Die Kanzlerin sprach im Fernsehen:
Der strenge Lockdown dauerte bis Mitte Mai 2020. Auch die Planung für das Weihnachtsoratorium wackelte. Viele dachten, das Proben wird doch ganz sicher nach den Sommerferien möglich sein und auch das Singen mit einem gewissen Abstand wird dann wieder in der Kirche erlaubt sein. Dann eine E-Mail im Postfach: Es darf wieder in kleinen Gruppen gesungen werden. Mit Abstand von 2 Metern und höchstens 6 Leuten. Da die Gemeinde im Gottesdienst nicht singen darf ist eine kleine Gesangsgruppe sehr willkommen. Wer macht mit? Angehängt eine Termin-Liste. Ich trug mich gleich ein. Wie lange hatte ich nicht mehr gesungen? Ob die Stimme noch da ist? Es fühlte sich wunderbar an wieder gemeinsam zu Singen. Die Choräle aus dem Gesangbuch waren Balsam für die Seele. Die Situation wirkte schon auch skurril und beunruhigend. Die wenigen Menschen, die mit Masken vermummt und sehr viel Abstand in der Kirche saßen gaben ein trauriges Bild. Sie durften ja nicht mitsingen! Alles war genau mit einem Hygienekonzept geregelt. Namen und Adressen wurden für die Weiterverfolgung registriert. Trotzdem: Das Singen und Zusammensein im Gottesdienst war wie eine Umarmung. So lange hatte man ja alles Mitmenschliche entbehrt. Keine oder wenig andere Menschen getroffen, geschweige denn sich umarmt. Wie wichtig das alles doch ist. Vielen und auch mir wurde das erst jetzt bewusst. So ging es bis zu den Sommerferien in kleinen Gruppen weiter. Diese Sonntage waren für mich eine willkommene Abwechslung. Viele Kultureinrichtungen und Vereine waren geschlossen, Kontakte immer noch reduziert. Die gesamte Chorgemeinschaft konnte sich an einem Sommerabend im Freien wieder treffen. Ein gemeinsames Singen und Grillen am 29. Juli 2020 im Schurwald brachte uns die Erinnerung an die unbeschwerten Chorzeiten schnell zurück. Nur das Singen war noch nicht unbeschwert. Was ist mit den Aerosolen, über die sich Covid-19 doch so verbreitet? Uwe schickte uns mit den optimistischen Worten: „Vielleicht ist ja nach den Ferien alles vorbei und Im nächsten Jahr haben wir dann auch an Pfingsten unsere Chorreise nach Italien vor uns!“ in die Sommerferien.
Per E-Mail bekam der Chor die Nachricht: Die Kantaten des Weihnachtsoratoriums sollten jeweils in halber Besetzung in den Gottesdiensten aufgeführt werden. Dafür können sich SängerInnen, die sich das mit weniger Proben zutrauen für die Kantaten 1 oder 2 eintragen. Die dritte sollte dann die Jugendkantorei singen. Nur eine Kantate singen ist besser als gar keine, dachte ich mir und freute mich auf den Neustart. Geprobt wird also nach den Sommerferien, zeitversetzt mit zwei Meter Abstand und jeweils nur 45 Minuten. Dazwischen soll gelüftet werden. Es wurden Hygienebeauftragte ernannt, die vor jeder Probe ein Foto von der Sitzordnung machten. Wir sollten mit Masken an den Platz gehen und den Raum durch den anderen Ausgang verlassen. Die Abstände zwischen den Stühlen waren wirklich zwei Meter, - das konnte wegen der kleineren Besetzung und dem großen Saal im Gemeindehaus am Blarerplatz gut gelingen. All diese Regeln, inklusive Austeilen der Notenblätter mit Mund-Nasen-Schutz wurden von uns vorbildlich eingehalten. Aber mit dem Herbstwetter stiegen die Infektionszahlen. Im November war dann von einem kurzen „Wellenbrecher-Lockdown“ die Rede, um das Weihnachtsfest in der Familie nicht durch massenhafte Ansteckungen zu gefährden. Also pausierten wir auch mit dem Chor, immer noch zuversichtlich die WO-Kantaten mit einer Auffrischungsprobe in den Weihnachtsgottesdiensten aufführen zu können. Es kam aber leider wieder anders: Eigentlich war im Dezember 2020 eine gemeinsame Probe in der Kirche angesetzt. Wir setzten uns mit unseren Masken und viel Abstand in die Bankreihen. Es folgte eine Ansprache von Uwe: Das WO wird für den Chor leider abgesagt. Ein Solistenquartett wird es in den Gottesdiensten in gekürzter Form vortragen. Schade, aber die Situation war einfach zu heikel und deshalb der Entschluss richtig. Traurig gingen wir heim. Kein Weihnachtsmarkt, kein Singen, stattdessen Weihnachtseinkäufe mit Masken und hoffen, dass es zumindest möglich ist, die Familie an Weihnachten zu sehen. Später erfuhren wir, dass an dem Abend eine Chorsängerin schon infiziert war, ohne es zu wissen. Vielleicht gut, dass wir nur gesprochen und nicht mehr gesungen hatten!
Wir starteten 2021 irgendwann wieder mit dem Singen in kleiner Gruppe im Gottesdienst, so dass der musikalische Faden nie ganz riss. Für die Chorgemeinschaft war es eine schwierige Zeit. Es gab
mal ein Online-Treffen, aber wir waren alle durch das viele home-office und home-schooling so online-müde und wollten uns ja endlich leibhaftig wiedersehen. Die ersten waren geimpft, aber noch zu
wenige für eine singfähige Besetzung. Erst ab 20. Mai 2021 erlaubte das Infektionsschutzkonzept der Landeskirche wieder musikalische Proben und Aufführungen. Alle Mitwirkenden mussten geimpft,
genesen, oder getestet sein und es nachweisen können. Wir trafen uns wieder mittwochs in zwei Gruppen. Eine kleine private Gruppe aus dem Chor fuhr sogar nach Italien. Nach den Sommerferien würde
dann die Probenarbeit für das im Jahr zuvor verschobene Mozart-Requiem-Konzert wieder losgehen. Es sollte am 20. November 2021 nun endlich stattfinden.
Tatsächlich lief alles ganz gut an. Wir hatten das Requiem noch „im Ohr“ und es war herrlich wieder gemeinsam zu musizieren. Dabei unterstützte uns jetzt auch Camilla, die schon mehrere Monate
als Praktikantin an der Stadtkirche war und leider die ganze lähmende Zeit des Singverbots erleben musste. Sogar einen Probentag gab es wieder. Am 23. Oktober trafen wir uns alle im Gemeindehaus
der Südkirche. Wir fühlten uns zunehmend sicherer, weil wir ja alle geimpft waren. Wir hörten zwar, dass mit der Delta-Variante immer mehr Impfdurchbrüche bekannt wurden und die
Infektionszahlen nun wieder anstiegen, aber, bei all unseren Vorsichtsmaßnahmen musste es doch eigentlich gut gehen?
Es ging nicht gut. Das Konzert wurde tatsächlich zum zweiten Mal abgesagt, obwohl wir sogar eine weitere Sicherheitsmaßnahme eingebaut hatten: Jemand aus dem Chor hatte Kontakt zu einer
professionellen Testfirma. Schon bei der Hauptprobe hatten wir vorher alle einen Corona-Antigen-Lollytest gemacht und waren alle Corona-negativ! Auch für den Konzertsamstag war das Testen aller
Mitwirkenden vorgesehen. Der Entschluss das Konzert abermals abzusagen war aber richtig. Die meisten Veranstaltungen in der Umgebung traf es ebenso. Die Intensivstationen füllten sich und die
Inzidenz in Esslingen stieg immer noch unaufhörlich. Auch unser Publikum wäre gefährdet gewesen.
Neuigkeiten dann vom Gesundheitsminister: Der Impfschutz muss aufgefrischt, jeder sollte „geboostert“ werden! Das taten wir nun alle (die allermeisten) schnell noch vor Weihnachten.
Wer noch keine dritte Impfung hatte musste einen Coronatest vorweisen.
Tja, nach Delta folgte im Februar 2022 die Omikron-Variante, die sich zum Glück zwar als ansteckender, aber auch als weniger krankmachend erwies. Deshalb ging die Probenarbeit mit den bewährten
Maßnahmen (Impfung, Test, Abstand) weiter und wirklich: Am 2. April 2022 sangen wir im Rahmen der Konzertreihe „Stunde der Kirchenmusik“ zusammen mit der Jugendkantorei das Mozart-Requiem.
Dieses Konzert wird mir mehr als jedes andere im Gedächtnis bleiben. Es war durch die drei Anläufe das bestgeprobte Konzert bisher. Wir alle hatten wieder Lollytests gemacht, standen mit etwas
mehr Abstand in der Chorgruppe, aber ansonsten gab es keine Einschränkung mehr. Es war ein sehr schönes und erfüllendes Erlebnis. Sogar die fertigen Programme vom Vorjahr erfüllten immer noch
ihren Zweck. Endlich wieder ein Konzert!
Corona ist nicht vorbei. Aber das Schlimmste haben wir nun glaube ich hinter uns.
(Claudia im Juni 2022)